Karate für alle

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Alessandro Aquino führt die Wadokai Karateschule Rorschach, wo er als Sensei traditionelles Japanisches Karate vermittelt. Er unterrichtet Kinder, Jugendliche und Erwachsene – darunter eine vierzehnköpfige Gruppe, die ihm besonders am Herzen liegt: Die Insieme-Gruppe. In der Gruppe trainieren Menschen mit einer körperlichen und geistigen Beeinträchtigung. Wir wollten von Alessandro wissen: Was macht die Insieme-Gruppe so besonders für ihn? Und was sind die grössten Herausforderungen beim Karate-Training mit Menschen mit Beeinträchtigung? Aber beginnen wir am Anfang…

 


Die Anfänge der Karate Insieme-Gruppe

Vor etwas mehr als 10 Jahren kontaktierte die damalige Präsidentin des VGB Rorschach (Verein zugunsten Menschen mit Geistiger Beeinträchtigung) Alessandro Aquino, der damals bereits die Karateschule Rorschach leitete, mit dem Wunsch, gemeinsam einen Kurs für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung ins Leben zu rufen. Die beiden entwickelten diese Idee weiter und im April 2011 fand das erste Karatetraining für die Insieme-Gruppe statt. Mehr und mehr Sportlerinnen und Sportler nahmen an den Trainings teil und wurden sowohl eine Insieme-Erwachsenen- als auch eine Insieme-Kids-Gruppe ins Programm der Karateschule aufgenommen.

 

Von Rorschach nach Rom: eine bereichernde Reise

Im Jahr 2014 fuhr Alessandro Aquino mit seiner Insieme-Gruppe an ein Einladungsturnier nach Rom. Das Team reiste mit acht Sportlerinnen und Sportlern und sechs Betreuern an. Aquino erinnert sich mit leuchtenden Augen: «Dieses Erlebnis war unglaublich schön. Für alle war es der erste ernste Wettkampf, und viele hatten mit grosser Nervosität zu kämpfen. Doch noch selten habe ich an einem Turnier so einen Zusammenhalt, eine solche Harmonie und einen so freundschaftlichen Kontakt erlebt. Keine und keiner von uns wird das jemals vergessen». 

 

Vom Verein «Karate für alle» zu PluSport

Nach der Rückkehr war Aquino überzeugter denn je: Die Sportart Karate musste für alle Menschen zugänglich gemacht werden – egal ob für Menschen mit oder ohne Einschränkungen. Er ging auf Marc Keller zu, den Vizepräsidenten der Swiss Karate Federation und erkundigte sich, wie viele der rund 300 Dojos in der Schweiz Menschen mit Einschränkungen unter ihren Mitgliedern hatten. Die Antwort war ernüchternd. Aquino stand allein da. Nach langem Überlegen und Pläneschmieden fasste er einen Entschluss: Er gründete den Verein «Karate für alle». «Via Crowdfunding sammelten wir Geld und konnten dank unserem Erfolg auf der Plattform lokalhelden.ch der Raiffeisen unsere Mitglieder mit Material ausstatten und den Karatelehrerinnen und -lehrern die Ausbildung finanzieren.» Vor kurzem integrierte Aquino seinen Verein in PluSport, den Dachverband für den Behindertensport in der Schweiz, wo er heute auf Projektleiter-Basis angestellt ist. 

Die Insieme-Gruppe ist mittlerweile offizielles, lizenziertes Mitglied des Schweizerischen Karateverbands und Alessandro Aquino unterrichtet sowohl die Insieme-Erwachsengruppe als auch die Insieme-Kidsgruppe. Für Anzüge und Ausrüstung setzt Aquino auf Budo-Sport AG, wo er von besonders guten Preisen profitiert. «Mein Dojo bestellt immer bei Budo-Sport AG. Wir pflegen eine sehr schöne Partnerschaft, die ich sehr zu schätzen weiss.» Nicht nur er, auch seine Schülerinnen und Schüler, die ihren Gi in Training und Wettkampf mit grossem Stolz tragen. 


Der Mensch im Zentrum

«Es ist die Aufgabe eines jeden Karatelehrers, sein Training an die individuellen Fähigkeiten und das physische Level der Sportlerinnen und Sportler anzupassen. Genau so ist es auch, wenn man als Karatelehrer Menschen mit Beeinträchtigungen trainiert. «Die Behinderung ist nur eine einzelne Fähigkeit der Menschen», so Alessandro Aquino. «Nach wenigen Minuten zusammen rückt die Behinderung in den Hintergrund. Man denkt nicht mehr an Beeinträchtigungen, redet nicht mehr von Behinderungsbildern – alles, was man sieht, ist der Mensch.» Die Teilnehmer mit Handicap machen es einem jedoch auch einfach, so Aquino: «Sie öffnen die Türen und kennen keine Berührungsängste. Sie sind unglaublich ehrlich und direkt, nehmen kein Blatt vor den Mund. Von einigen habe ich da schon ein ganzes Stück lernen können».

 

Karatetraining: Sprachbilder, taktile Hilfen und langsamere Erklärungen

Das Training ist – genau wie in allen anderen Gruppen auch – stets gleich strukturiert. Nach dem Begrüssungsritual und der Gymnastik folgen Grundschulübungen mit Schlag, Abwehr und Kicktechniken. Diese werden mit dem Partner bzw. mit der Partnerin oder am Schlagkissen geübt. Nach einer kurzen Pause folgen 20 Minuten Selbstverteidigung. Zur Förderung der Konzentration werden die Lektionen jeweils nach rund 15 Minuten durch kurze Auflockerungssequenzen unterbrochen. 

Die Trainings finden immer mit zwei Coaches statt, damit eine optimale Betreuung gewährleistet ist. Um den Sportlerinnen und Sportlern das Training zu vereinfachen, arbeiten Aquino und seine Partnerin Angelika mit Farben, Sprachbildern und taktilen Hilfen. «Wir arbeiten nicht mit Links und Rechts, sondern mit Rot und Blau», erklärt er, und zeigt seine Handgelenke mit rotem und blauem Pulswärmer. Zudem tragen wir meistens Handschützer und zielen nie auf den Kopf. Je nach Behinderungsbild brauchen gewisse Erklärungen mehr Zeit. «Die Erklärungen erfolgen in viel langsamerem Tempo, da bei geistigen Beeinträchtigungen die Wahrnehmung teilweise stark verlangsamt ist.» Auch auf physische Voraussetzungen muss Rücksicht genommen werden. So haben Teilnehmer mit Trisomie-21 ein sehr lockeres Bindegewebe und sind überbeweglich, was beispielsweise bei Dehnungsübungen beachtet werden muss.


Mit Karate Leben bereichern, Leben verändern

Und Aquinos Geheimrezept für ein gelungenes Training für Menschen mit Handicap? «Man muss unbedingt sich selbst sein, den eigenen Lehrstil beibehalten und sich nicht verstellen aufgrund der Beeinträchtigungen der Trainingsteilnehmer.» Man braucht zudem eine grosse Portion Geduld und – am allerwichtigsten: Freude. Und Freude ist, was von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zurückkommt. Leuchtende Augen und lachende Gesichter sind für Aquino die grösste Motivation und der Grund, weshalb er so viel in die Förderung des Karates für Menschen mit Beeinträchtigung investiert. «Für mich ist es das Allerschönste, wenn ich sehe, wie viel das Training den Menschen bedeutet. Das Karate hat mein eigenes Leben verändert und ich bin überzeugt davon, dass es auch das Leben der Menschen in der Insieme-Gruppe positiv verändert - durch vermittelten Werte, entstandene Freundschaften und den Ausdruck der Bewegung.

Man darf nicht vergessen: Menschen mit Beeinträchtigung haben genau die gleichen Probleme wie wir. Man muss sie ernst nehmen und ein offenes Ohr für sie haben. Nicht selten passiert es, dass eine Teilnehmerin ins Training kommt, schlecht gelaunt und mit der Ankündigung «heute geht’s mir nicht gut». Nach zehn Minuten wird gelacht und der Kampfschrei verwandelt sich in Gejodel oder Gesang.» Die Freude, die zurückkommt, motiviert Aquino täglich in seinem Schaffen – egal ob mit der Insieme-Gruppe oder mit einer der anderen Trainingsgruppen.

 

Barrieren abbauen: Die Zugänglichkeit zum Karate für alle

Heute bieten sechs Dojos in der Schweiz Karatetraining für Menschen mit Einschränkungen an. «Es sind zwar kleine Schritte, aber es geht vorwärts», so Aquino. Sein Ziel ist es zunächst, Barrieren abzubauen und die Zugänglichkeit zum Sport für alle zu ermöglichen. «Zieht eine nicht-behinderte Frau nach Zürich um, steht ihr ein unglaublich breites Angebot von Kampfsportarten und Trainingsmöglichkeiten zur Auswahl. Anders sieht es für eine Frau mit einer Behinderung aus: Für sie besteht keine einzige Möglichkeit.» 

Aquino, der 70% als Informatiker bei der Raiffeisen arbeitet, steckt nahezu seine gesamte Freizeit und unglaublich viel Herzblut in die Mission, seine Leidenschaft weiterzugeben. Kindern, Erwachsen, Menschen mit und Menschen ohne Beeinträchtigung. Mit viel Ausdauer ist Aquino im Dienst des Karate unterwegs. Sein Credo: «Einfach machen!» Und er verrät uns: «In 9 Jahren werde ich pensioniert, da geht dann richtig die Post ab!»

Bei Interesse am Training oder am Aufbau einer eigenen Trainingsgruppe für Menschen mit Beeinträchtigung und bei Fragen können Sie sich gerne per E-Mail an Alessandro Aquino wenden
Posted in: Kampfsport Insights